Literatur auf (Land-)Karten sichtbar zu machen, erfreut sich derzeit großer Beliebtheit. Es liegt nahe, sich an der Ruhr-Universität im Rahmen eines studentischen Projekts mit einem solchen Vorhaben auch für das Ruhrgebiet zu befassen.
Will man die Literatur einer Region sichtbar machen, muss man, allein schon aus Gründen der begrenzten Dauer eines solchen Seminarprojektes, bereits vor Beginn der eigentlichen Arbeit zahlreiche Grenzen ziehen. Ruhrgebiet, da fängt es ja schon an: Gibt es feststehende Grenzen? Und welche Städte umfasst die überhaupt? Seit wann wird in diesem Gebiet Literatur geschaffen und veröffentlicht? Welcher Zeitraum soll durch das Projekt abgedeckt werden? Ist eine Einteilung in verschiedene Zeiträume sinnvoll? Und ganz elementar: Was genau soll überhaupt abgebildet werden?
So eine Karte hat ja, im Gegensatz zu einer normalen von Natur aus eher nüchternen Bibliographie, die Möglichkeit, sowohl interessierte Laien als auch Experten anzusprechen. Dafür ist es aber natürlich elementar, die dargebotenen Daten gleichsam übersichtlich, leicht zu entschlüsseln, aber auch informativ und einigermaßen umfangreich zu gestalten. In der Frage der räumlichen Grenzen haben wir uns, auch aus pragmatischen Gründen, strikt für die durch den Regionalverband Ruhr festgelegten Grenzen entschieden. Romane, deren Handlungsorte sich in diesen Grenzen wiederfinden, Autoren, die in den entsprechenden Orten gelebt oder gewirkt haben oder es noch tun und Literaturinstitutionen, die innerhalb des Regionalverbands ansässig waren oder sind, sollen auf der Karte berücksichtigt werden.
Bleibt die Frage nach der chronologischen Einteilung: An dieser Stelle haben wir uns für eine absolut ruhrgebietsspezifische Einteilung in fünf Zeiträumeentschieden: vor 1867; 1867 bis 1920; 1920 bis 1958; 1958 bis 2010; nach 2010. Die jeweiligen Zeitgrenzen orientieren sich an für das Ruhrgebiet wichtigen Ereignissen. Im Jahr 1867 lässt sich das erste Mal die Bezeichnung “Ruhrgebiet” und damit ein im Entstehen begriffenes Gemeinschaftsgefühl der Region nachweisen. 1920 kam es in verschiedenen Ruhrgebietsstädten zum sogenannten Ruhraufstand, in dem Arbeiter versuchten nach der Niederschlagung des Kapp-Putsches selbst die Macht zu übernehmen und eine Räte-Republik auszurufen. Das Jahr 1958 markiert durch die erste Zechenschließung den Niedergang der Montanindustrie im Ruhrgebiet und damit den einsetzenden Strukturwandel, den das Jahr 2010 durch das Kulturhauptstadtjahr (mit Essen als Hauptstadt) quasi abschließt.
Das Einrichten eines Zeitraumes nach 2010 kann im Übrigen als deutliches Signal verstanden werden: Diese Karte kann, darf und soll weitergeführt werden. Auch in den vier anderen Zeiträumen sind noch zahlreiche Lücken zu füllen. An keiner Stelle besteht Anspruch auf Vollständigkeit. Nachdem die Rahmenbedingungen festgelegt waren, konnte die eigentliche Arbeit beginnen, welche hier allerdings nur kurz am Rand gestreift werden soll: Aus diversen Bibliographien wurde eine rund 1.000 Titel umfassende Datenbank erstellt, in welche die Texte nach ihrer Verfügbarkeit in den Bibliotheken Nordrhein-Westfalens sortiert und zur Recherche freigegeben werden konnten. Infolgedessen mussten die Werke nach eindeutig identifizierbaren Schauplätzen beziehungsweise nach Hinweisen auf Wirkungsstätten von Autoren durchforstet werden. Zu jedem dieser Punkte auf der Karte, projektintern Marker genannt, musste dann noch ein kleiner Erläuterungstext, den Schauplatz, den Roman, den Autoren oder die Institution betreffend, erstellt werden.
So finden sich auf der Karte nun ganz verschiedene Marker. In Bochum-Linden findet man beispielsweise das Ehrengrabmal von Heinrich Kämpchen, in Oberhausen-Sterkrade weisen gleich mehrere Marker auf Schauplätze aus Ralf Rothmanns Romanen hin, da diese häufig dort spielen. An dieser Stelle ist es wichtig zu erwähnen, dass die meisten Romane nur an einem ihrer Schauplätze verlinkt sind. Der Besucher sollte also nicht davon ausgehen, den Marker zu seinem Lieblingsroman an einer ganz bestimmten Stelle zu finden.
Viel mehr als zum gezielten Suchen und Finden soll die Karte zum Stöbern einladen. Dennoch existiert natürlich eine Suchfunktion, durch welche sich jeder Punkt anhand von Autor, Titel oder Schauplatz finden lässt. Diese Funktion ist nicht ganz unwichtig für ein weiteres Feature, welches inzwischen Teil des Projektes ist: Besucher können eigene Texte einreichen, wenn sie ihren Lieblingsroman/-autor auf der Karte vermissen. Die genauen Modalitäten hierzu sind auf der Website unter „Beitrag hinzufügen“ zu finden. Ein kleines Team wird die eingereichten Texte im Hintergrund prüfen und in die Karte einpflegen. So soll auf Dauer ein immer umfassenderes Bild der Literaturlandschaft des Ruhrgebiets entstehen.
Nach inzwischen über zwei Jahren Arbeit ist ein in unseren Augen beachtliches Zwischenergebnis mit angenehmen Randerscheinungen entstanden. So sind auf der Literaturkarte aktuell 321 literarische Orte im Ruhrgebiet verzeichnet. Tendenz steigend. Weiter haben wir im vergangenen Sommer mit unserem Projekt an der ersten BoBiennale teilgenommen und einen literarischen Stadtrundgang in Bochum veranstaltet. Derzeit arbeitet die Redaktion daran, die Karte ins Printformat zu überführen: Für 2018 ist eine Buchveröffentlichung mit ausgewählten Orten der Literaturkarte.Ruhr im Klartext-Verlag geplant.
Die digitale Version der Literaturkarte kann online unter http://www.literaturkarte.ruhr/ durchreist und ergänzt werden.
Ein Gastbeitrag von Philip Behrendt
Ein sehr faszinierendes Projekt!
Nur eine Anmerkung: ist es in der chronologischen Einteilung nicht sinnvoll, die französische Besatzungszeit zu berücksichtigen? Ich höre immer wieder, dass sie vor allem in unserer Sprache ihre Spuren hinterlassen haben soll.
Die Zeiteinteilung haben wir tatsächlich lange diskutiert. Wichtig war uns erstens, nicht zu kleine Kategorien zu wählen.
Man hätte natürlich auch eine Einteilung “1867 — 1925” wählen können, die stand tatsächlich zur Debatte, allerdings erschienen uns die Auswirkungen von 1920 ebenso wichtig.
Als Beispiel für das Dilemma würde ich gerne Hans Marchwitza anführen: In seinem Erstlingswerk “Sturm auf Essen” wird der Ruhrkampf thematisiert, in “Die Kumiaks” geht es zumindest in Teilen um die Ruhrbesetzung. Die beiden Einschnitte für das Ruhrgebiet liegen einfach sehr nah beieinander und wir haben uns für den früheren entschieden.
Ich denke, hier wären beide Einteilungen vertretbar gewesen.
Wären wir ein linguistisches Projekt, hätte unsere Wahl vermutlich anders ausgesehen.