ÜBER

“Wir den­ken in der Gutenberg-Galaxis”

Vier Jah­re lang haben wir – Ger­ma­nis­tin­nen, His­to­ri­ker, Gestal­ter – Print gemacht. An der Ruhr-Uni­ver­si­tät haben wir vom Kon­zept bis zum Ver­trieb ein Maga­zin für Lite­ra­tur­kri­tik ent­wi­ckelt und pro­du­ziert. Bochu­mer Lite­ra­tur­kri­tik haben wir das genannt und mit der fuszno­te eine Platt­form geschaf­fen, die Stu­die­ren­den das Publi­zie­ren ihrer Tex­te erlaubt. Eine Platt­form und eine Zeit­schrift schaf­fen wir nun wie­der und pro­fes­sio­na­li­sie­ren uns hin­ein ins Netz. Der Bochu­mer Lite­ra­tur­kri­tik blei­ben wir ver­pflicht, nur ver­las­sen wir den Rah­men der Lehr­re­dak­ti­on, die den Nach­kom­men­den für ers­te Schrit­te die­nen soll. Das Netz war unse­re Hei­mat schon vor dem Print­pro­jekt und ist es wie­der, denn was wir wol­len, ist im digi­ta­len Raum viel eher mög­lich als im engen Rah­men von Insti­tu­ti­on und Lehre.

Über die Natur von Text und Kom­mu­ni­ka­ti­on den­ken wir anders als jene Phi­lo­lo­gen, die uns treu­en Her­zens sagen, sie däch­ten in der Guten­berg-Gala­xis. Die Trenn­schär­fe zwi­schen Print und Web erhal­ten sie mit Mühe. Uns ist das gleich. Wir leben in einer, nicht in zwei Wel­ten. Wir lie­ben den Text, und wir lie­ben ihn auf Papier, auf dem Bild­schirm, in den Sturm gesun­gen. Die Tren­nung zwi­schen Ana­log und Digi­tal ist nicht mehr zeit­ge­mäß. Über­all leuch­tet uns das Papier.

Kri­se und Kritik

Sau­ri­er der Kul­tur­be­trach­tung fürch­ten das Inter­net aus tau­send ver­rück­ten Grün­den. Ein wei­te­res Mal beschwö­ren sie die Kri­se der Lite­ra­tur­kri­tik, Lai­en schrü­ben Unsinn in Ver­kauf­s­por­ta­le, Gate­kee­per des Feuil­le­tons säßen unver­stan­den in den hohen Tür­men ihrer Geis­ter. Und über­haupt: Die digi­ta­len Klo­wän­de sei­en nichts im Ver­gleich zur rascheln­den Fah­ne, in der genau nach­zu­le­sen stün­de, was wirk­lich wich­tig sei.

Unsinn, sagen wir. Print kön­nen wir, Print machen wir auch wie­der. Netz machen wir heu­te, weil es Spaß macht, und weil uns wich­tig ist, frei zu publi­zie­ren. Licht flirrt aus allen Schir­men. Wir den­ken im hel­len Sol-Sys­tem, nicht in der Guten­berg-Gala­xis. Von dort aus flie­gen wir zur Cassini-Division.

Wal­ter Ben­ja­min erkann­te bereits am Anfang des 20. Jahr­hun­derts, dass rei­nes Wei­ter­rei­chen des jeweils Neu­en, der Lite­ra­tur­jour­na­lis­mus, ein Pro­blem war. Und er stell­te fest, dass die­ser Jour­na­lis­mus der wah­ren Funk­ti­on einer Kul­tur- oder Lite­ra­tur­kri­tik nicht gerecht wurde:

Jede Zeit­schrift hät­te wie die­se, uner­bitt­lich im Den­ken, unbe­irr­bar im Sagen und unter gänz­li­cher Nicht­ach­tung des Publi­kums, wenn es sein muss, sich an das­je­ni­ge zu hal­ten, was als wahr­haft Aktu­el­les unter der unfrucht­ba­ren Ober­flä­che des Neu­en oder Neu­es­ten sich gestal­tet, des­sen Aus­beu­tung sie den Zei­tun­gen über­las­sen soll.

Die­sem “Dik­tum und Ver­dikt” soll­te die wah­re Kri­tik fol­gen – eine Per­spek­ti­ve, die sich auf­fal­lend mit der aktu­el­len Dis­kus­si­on um Lite­ra­tur­jour­na­li­mus und Lite­ra­tur­kri­tik deckt.
Zwei Zeit­schrif­ten pro­jek­tier­te Wal­ter Ben­ja­min. Die ers­te nann­te er Kri­se und Kri­tik, die ande­re, nach dem von ihm gelieb­ten Bild Paul Klees und der zen­tra­len Alle­go­rie sei­ner geschichts­phi­lo­so­phi­schen The­sen (Über den Begriff der Geschich­te GS 1, S. XYZ), Ange­lus Novus. Bei­den liegt die melan­cho­li­sche Ein­sicht in eine kata­stro­phi­sche Beschaf­fen­heit der Gesell­schaft zugrun­de, [denn der Engel schaut ent­lang der Bewe­gung des Fort­schrit­tes zurück in die Ver­gan­gen­heit und sieht die Trüm­mer, die das Fort­schrei­ten der Geschich­te hin­ter­lässt]. Die Begrif­fe Kri­se und Kri­tik ver­kör­pern den Weg der melan­cho­li­schen Erkennt­nis; der Blick ins Gesche­he­ne, die Fähig­keit zur Ein­sicht in die Kri­se, ist nicht Hin­der­nis, son­dern Vor­aus­set­zung zur Ent­fal­tung wah­rer Kri­tik, und satur­ni­sche Distanz zum Ereig­nis ist ihr Raum.

“Die Nei­gung des Melan­cho­li­schen zu wei­ten Reisen”

Saturn, der “als höchs­ter und dem täg­li­chen Leben fern­ste­hen­der Pla­net, als der Urhe­ber jeder tie­fen Kon­tem­pla­ti­on die See­le von Äußer­lich­kei­ten ins Inne­re ruft” (GS1 326–327) ist Ben­ja­min die Quel­le des­sen, was Lite­ra­tur­kri­tik aus­macht. Allein im Print, das zeigt die Debat­te (zum Bei­spiel hier und hier), las­sen sich jene Pro­ble­me heu­te gar nicht lösen. Das digi­ta­le Reich der Zei­chen, dem in einer Umkeh­rung der Ver­hält­nis­se das Gedruck­te neu­er­dings wie einer der vie­len Mon­de des Saturn bei­zu­ste­hen scheint, ist der Kri­tik will­kom­me­ne Heim­statt. Es gewährt die Abkehr von öko­no­mi­schen Zwangs­ehen, päd­ago­gi­scher Enge und tech­ni­scher Beschrän­kung. Es hat Raum für die sorg­fäl­ti­ge Erar­bei­tung des Mate­ri­als und eine aus­grei­fen­de Aus­ein­an­der­set­zung mit der Mate­rie. Die­sen Raum suchen wir auf.

Die Cas­si­ni-Divi­si­on

Satel­li­ten umkrei­sen den Saturn, kom­mu­ni­zie­ren in Schwer­kraft mit­ein­an­der. Sie ent­fal­ten ihre Wir­kung und ord­nen Mate­rie zu begrenz­ten, doch in sich voll­kom­men chao­ti­schen Rin­gen. Die Cas­si­ni-Divi­si­on oder Cas­si­ni­sche Tei­lung ist ein frei­er Raum zwi­schen den Rin­gen des Saturn. Geschaf­fen wird die­ser stil­le Ort inmit­ten der Par­ti­kel­fel­der von einem Mond, benannt nach dem Gigan­ten Mimas, einem Bru­der des Kro­nos oder Saturn. Wir ent­fal­ten die Son­nen­se­gel und rei­sen in die­sen Raum. Das Rau­schen der Spra­che, das der um die Sub­stanz krei­sen­den Dis­kur­se, ent­stammt aus unzäh­li­gen Teil­chen. Lexien hat Roland Bar­t­hes sie genannt, Par­ti­kel nen­nen wir sie und im Trüm­mer­schat­ten des Mimas schrei­ben wir sie auf und laden sie hier hoch.

tl:dr

Die Cas­si­ni-Divi­si­on liebt hohe Lite­ra­tur, Kul­tur und Pop. Ger­ma­nis­tin­nen und His­to­ri­ker pro­du­zie­ren hier Kri­se und Kri­tik: Eine Zeit­schrift und einen Frei­raum. Mit uns flie­gen die, die es wol­len. Sie als Lesen­de ent­schei­den, wie Sie die Par­ti­kel unse­res Tex­tes rezi­pie­ren. Als frei­en Hyper­text (ja, lie­be Phi­lo­lo­gen-Kol­le­gen, zitier­fä­hig mit jeweils ein­zig­ar­ti­ger Adres­se). Oder als klas­si­sche Dos­siers im PDF-For­mat für Rech­ner und mobi­le Endgeräte.

“Von der Wahr­heit der Wor­te jene Rechen­schaft zu geben.” (Ange­lus Novus)