Metamatrix und Hüter der lebendigen Schrift

Diet­mar Daths SF-Roman “Pulsar­nacht” ist Raum­flug­ha­fen in ein rie­si­ges Lektürenetzwerk.

Ele­gan­te Mul­ti­di­men­si­ons­raum­schif­fe flie­gen zu den Ster­nen, gefüllt mit tüch­ti­gen Besat­zun­gen koope­rie­ren­der Zivi­li­sa­tio­nen, zu denen auch die Mensch­heit zählt. Gna­den­los schön ist die­ses Uni­ver­sum, die com­pu­ter­op­ti­mier­ten Men­schen sind es, die leben­den Satel­li­ten, die Ess­ge­wohn­hei­ten super­klu­ger Ali­ens und die gran­dio­se, als mäch­ti­ge Sphä­re um einen Pul­sar her­um kon­stru­ier­te Haupt­stadt des Herr­schafts­be­rei­ches der Men­schen. Ange­führt wird das Impe­ri­um von Shava­li Cast­a­non, sieg­reich über ihren rebel­li­schen Kon­kur­ren­ten, den alle flüs­ternd nur den Shunk­an nen­nen. Das hat das Zeug zu einer Space Ope­ra und es wird sich zei­gen, dass Diet­mar Daths Pulsar­nacht genau das ist – und noch viel mehr.

Pulsar­nacht hat 2013 den Kurd-Laß­witz-Preis für den bes­ten deutsch­spra­chi­gen SF-Roman gewon­nen, wie sein Vor­gän­ger Die Abschaf­fung der Arten schon 2009. Die Fach­ju­ry mag Herz­klop­fen gehabt haben nach der Lek­tü­re, denn der Autor die­ser Bücher wird ein eige­nes Kapi­tel in der Geschich­te deutsch­spra­chi­ger Sci­ence Fic­tion bekom­men, das Revier hat spä­tes­tens Pulsar­nacht sicher mar­kiert. Diet­mar Dath, Lite­ra­tur­wis­sen­schaft­ler mit Umweg über die Phy­sik, FAZ-Feuil­le­ton­re­dak­teur, ist ein viel­sei­ti­ger Autor von 15 Roma­nen, einer Rosa-Luxem­burg-Bio­gra­fie und Über­le­gun­gen zu einem neu zu den­ken­den Sozialismus.
Was recht­fer­tigt nun die Hym­ne auf einen Roman, der als Gen­re­li­te­ra­tur fir­miert – und über des­sen Über­dreht­heit und Eitel­keit der mit Fremd­wör­tern und fik­ti­ver Fach­spra­che ange­rei­cher­ten Text­ober­flä­che arg­lo­se Buch­käu­fer (und diver­se Feuil­le­to­nis­ten) trotz creme­far­be­ner Raum­flot­te und Space-Ech­sen ein bei­na­he ein­stim­mi­ges Lamen­to anstimmen?
Es stimmt, Dath lässt uns nicht mit trä­ger Schmö­k­erlau­ne davon­kom­men, man muss sich schon ein­las­sen auf die abrupt ein­set­zen­de Geschich­te, der kei­ne Erklä­rung ihres Uni­ver­sum vor­an­geht. Es gibt ein Glos­sar (mit eini­gen Fin­ten), das aber Rät­sel eher auf­wirft als löst. Wir star­ten mit einer Kata­stro­phe, eine Sol­da­tin sitzt nach einer miss­glück­ten Mis­si­on im Schla­mas­sel und erzählt in Rück­blen­de, wie es dazu kam. Ihre Schiffs­be­sat­zung soll­te eine Gene­ra­lin fin­den, Auf­trag­ge­be­rin ist besag­te Prä­si­den­tin Cast­a­non, die die Raf­fi­nes­se der Unter­ge­tauch­ten unter­schätzt hat­te. Freund­li­cher­wei­se lässt die­se sich aber von der Sol­da­tin mit zurück in die pla­ne­ten­gro­ße Haupt­stadt der Mensch­heit brin­gen, wo sie wie­der­um, heim­ge­kehrt und von der Prä­si­den­tin geliebt, mit einer eige­nen Rück­hol­mis­si­on beauf­tragt wird. Noch vor dem Antritt ihrer Rei­se erfährt die Gene­ra­lin von der gemein­sa­men Toch­ter mit der Prä­si­den­tin, Geschlech­ter­rol­len und bio­lo­gi­sche Geschlech­ter sind flie­ßend gewor­den für die zukünf­ti­ge Mensch­heit. Der Erz­ge­gen­spie­ler der Prä­si­den­tin soll über­zeugt wer­den, nach ver­söhn­li­cher Ges­te (und nach einem grau­sa­men Kriegs­ge­sche­hen) aus der Ver­ban­nung heim­zu­keh­ren, jener Mann, der mit sei­nen letz­ten Getreu­en in Luxus ein­ge­ker­kert in einem leben­den Pla­ne­to­iden auf bes­se­re Zei­ten war­tet und sich kör­per­los ins All träumt.
Beglei­tet wird die­ses Rin­gen um Macht und Nähe von einer Regie­rungs­kri­se, die schließ­lich zur Abset­zung der Prä­si­den­tin führt, was meh­re­re, mit der Mensch­heit lose ver­bün­de­te Ali­en­zi­vi­li­sa­tio­nen inter­es­siert ver­fol­gen. Da sind die Bin­tu­ren, »Hun­de­ar­ti­ge«, vier­bei­nig und extrem hoch­be­gabt, die Sky­ho, rät­sel­haf­te Nicht­hu­ma­no­ide, die in Sinn­sprü­chen kom­mu­ni­zie­ren, die Cus­tai, dem äuße­ren Anschein nach »Rep­ti­li­en«, kapi­ta­li­si­tisch und gewinn­ori­en­tiert und nicht zuletzt deren ver­sklav­te Nutz­tie­re, die Dims. Die wir­ken pro­vo­zie­rend men­schen­ähn­lich, nur grö­ßer sind sie und nicht geeig­net zur Auf­rüs­tung mit künst­li­chen Ergän­zun­gen des Ner­ven­sys­tems, die über Back­ups und ande­re Mit­tel das Indi­vi­du­um prak­tisch unsterb­lich machen – sofern die Regie­rung das erlaubt. Die­se Inter­es­sen­ge­mein­schaf­ten und Kul­tu­ren steu­ern auf ein Ereig­nis zu, das eben die­se gezüch­te­ten Skla­ven mit ihren leben­di­gen Täto­wie­run­gen und Lager­feu­er­näch­ten in hart­nä­ckig tra­dier­ten Mythen voraussagen.
Die »Pulsar­nacht«, ein kos­mi­sches Ereig­nis, bei dem alle Pul­sa­re ihre Akti­vi­tä­ten aus­set­zen und dabei von jedem belie­bi­gen Ort aus beob­ach­tet wer­den, was nach phy­si­ka­li­schen Geset­zen unmög­lich ist. Die Dims, für die die com­pu­ter­sym­bio­ti­schen Men­schen in etwas trot­zi­ger Dis­tink­ti­on gegen ihre Nicht-Auf­rüst­bar­keit mit Gehirn­bau­tei­len das Schimpf­wort »Trü­be« geprägt haben, wer­den von den ver­meint­lich Unver­mö­gen­den, die sich mit ihnen tra­di­tio­nel­le Men­schen­na­men tei­len, wie­der­um »Schein­zel­ne« genannt. Es ist früh zu ahnen, wie weit es mit den Unter­schie­den wirk­lich her sein mag.

Man kommt nicht dar­an vor­bei, Pulsar­nacht poli­tisch zu lesen, als gala­xien­wei­tes Büh­nen­stück von der Kon­kur­renz zwi­schen Gesell­schafts­sys­te­men, Kapi­ta­lis­mus und Sozia­lis­mus, Frei­en und Leib­ei­ge­nen, Max Stir­ners »Ein­zi­gem« und sei­nem Eigen­tum und Hegels »Trü­ben Völ­kern«. Und man kommt doch dar­an vor­bei, denn man lan­det, nimmt man das Ange­bot an, schnell bei wei­te­ren Lek­tü­ren. Wer Spaß dar­an hat, die inter­tex­tu­el­len Spu­ren über den schie­ren Plot des Romans hin­aus zu ver­fol­gen, kann teil­neh­men an Daths Spiel mit einem ganz eige­nen Kanon aus Poli­tik, Phi­lo­so­phie und Pop.
Nie­mand muss Sozia­list sein, um Pulsar­nacht zu genie­ßen, aber es hilft, ger­ne und viel zu lesen. Es gibt reich­lich Mög­lich­kei­ten, kor­re­spon­die­ren­den Tex­ten nach­zu­ge­hen. Dath selbst nennt in sei­nem Nach­wort zwei SF-Roma­ne als Grund­la­ge sei­nes Gedan­ken­ex­pe­ri­ments der ver­schmol­ze­nen Nicht-Ver­ein­bar­kei­ten, näm­lich den Klas­si­ker Die Leben des Laza­rus Long von Robert A. Hein­lein und We who are about to von Joan­na Russ. Bei­de sei­en ein­an­der aus­schlie­ßen­de welt­an­schau­li­che Ent­wür­fe, die mar­xis­ti­sche Femi­nis­tin, der zwi­schen anar­chis­ti­scher Selbst­be­stim­mung und sexis­ti­schem Sozi­al­dar­wi­nis­mus chan­gie­ren­de Frei­geist Heinlein.

Ande­re Wur­zeln und Echo­räu­me erschlie­ßen sich über die Ban­de. Ganz sicher ist Pulsar­nacht ein Pan­ora­ma (oder expe­ri­men­tum cru­cis?) der The­sen aus Daths Essay Maschi­nen­win­ter (2008). Wer bei­de Tex­te liest, stößt auf die Idee von der Evo­lu­ti­on des Uni­ver­sums, der tech­no­lo­gi­schen Sin­gu­la­ri­tät, einem Zeit­punkt über­le­ge­ner künst­li­cher Intel­li­genz, die sich selbst ver­bes­sert und eine Spal­tung der Mensch­heit in Post­hu­ma­ne und Abge­häng­te zur Fol­ge hat. Maschi­nen­win­ter zitiert Fou­cault: »Der Mensch ist eine Erfin­dung, deren jun­ges Datum die Archäo­lo­gie unse­res Den­kens ganz offen zeigt. Viel­leicht auch ihr bal­di­ges Ende. […] wenn durch irgend­ein Ereig­nis, des­sen Mög­lich­keit wir höchs­tens vor­aus­ah­nen kön­nen, aber des­sen Form oder Ver­hei­ßung wir im Augen­blick noch nicht ken­nen, die­se Dis­po­si­tio­nen ins Wan­ken gerie­ten […], dann kann man sehr wohl wet­ten, daß der Mensch ver­schwin­det wie am Mee­res­ufer ein Gesicht im Sand.« Ob die Hand­lung dar­auf hin­aus­läuft oder ein sol­ches Ereig­nis bereits weit in der Ver­gan­gen­heit der Roman­welt statt­ge­fun­den hat, dar­über kann man nachdenken…

In Maschi­nen­win­ter trägt eine »befreun­de­te Bio­lo­gin« zum Gedan­ken­fort­gang bei und ein Dia­log, eine dop­pel­te kos­mi­sche Autor­schaft, ist mög­li­cher­wei­se die Grund­la­ge des tran­szen­dier­ten Uni­ver­sums der Pulsar­nacht. Maschi­nen­win­ter vor­an­ge­stellt ist das Zitat einer gewis­sen Ellen May Ngwe­thu, die sich nicht als Frie­dens­no­bel­preis­trä­ge­rin oder femi­nis­ti­sche Autorin ent­puppt, son­dern als lite­ra­ri­sche Figur.
Ein wei­te­rer SF-Autor kommt ins Spiel, Ken MacLeod mit einer Roman­rei­he, die im sozia­lis­tisch regier­ten Son­nen­sys­tem spielt, in dem eine tech­no­lo­gi­sche Sin­gu­la­ri­tät post­hu­ma­ne Com­pu­ter­we­sen zu Ant­ago­nis­ten der Mensch­heit gemacht hat. Der drit­te Band der Rei­he, Die Cas­si­ni-Divi­si­on, endet mit der Aus­sicht, dass ein Teil der Mensch­heit von Maschi­nen als Wirts­kör­per über­nom­men wird. Wer die Cas­si­ni-Divi­si­on und Pulsar­nacht liest und Daths Arti­kel über Hein­leins Ver­diens­te um die »Future Histo­ry« kennt, kann Daths Roman als dis­kre­te, in wei­te Zukunft ver­leg­te, Fort­set­zung der Ereig­nis­se in MacLeods Roman zu lesen. Autor­über­grei­fen­de Future Histo­ry ohne Bewusst­sein der Figu­ren für ihre Her­kunft, das wäre ein Plot für Phil­ip K. Dick gewe­sen. Und in der Tat fin­den sich in den von Prot­ago­nis­ten des Romans geschrie­be­nen poe­ti­schen Gleich­nis­sen Ele­men­te, die an Dicks Pal­mer Eld­ritch erin­nern, der sei­nem an künst­li­chen Rea­li­tä­ten zer­bro­che­nen Alter Ego anbie­tet, er kön­ne alles sein, sogar ein Stein.
Auf Hein­lei­nes Stran­ger in a Stran­ge World, in dem die Mensch­heit vor dem Abgrund ihrer Ver­nich­tung durch eine voll­stän­dig fremd­ar­ti­ge, über­le­ge­ne Mars­zi­vi­li­sa­ti­on steht, ver­weist der Name der Sol­da­tin, die uns in die Ereig­nis­se ein­führt, par­al­lel zum Namen ihrer Gelieb­ten aber auch auf die Schrift­stel­le­rin­nen Valen­ti­ne Ack­land und Syl­via Town­send War­ner. Auf die Legen­de vom »Shunk­an«, einem rebel­li­schen Mönch aus den Hei­ke Mono­ga­ta­ri (Erzäh­lun­gen von den Hei­ke), einem Klas­si­ker der japa­ni­schen Lite­ra­tur, ver­weist der Name des Ant­ago­nis­ten der post­so­zia­lis­ti­schen Herrscherin.

Wer Pulsar­nacht geschätzt hat, wird von dort aus wei­ter­le­sen. Viel­leicht den Implex, Diet­mar Daths und Bar­ba­ra Kirch­ners theo­re­ti­schen Rund­um­schlag mit dem Unter­ti­tel »Sozia­ler Fort­schritt: Geschich­te und Idee« (2012). Oder zur Klä­rung der Bezie­hung zwi­schen Marx und Hegel den kur­zen Band Karl Marx. Phi­lo­so­phie für Ein­stei­ger (2013). Man kann sich stö­ren an Daths eli­tä­ren poli­ti­schen Ansich­ten, einem intel­lek­tu­el­len Sozia­lis­mus 2.0 mit iro­nisch getra­ge­nem Lenin­bärt­chen, der so nur im son­ni­gen Frei­burg zwi­schen bra­vel­ter­li­chen Dör­fern rei­fen kann. Oder an einem wie schon in Abschaf­fung der Arten erbar­mungs­lo­sen Welt­bild mit pla­ne­ten­wei­se aus­ge­lösch­ten Evo­lu­ti­ons­ver­lie­rern. An der man­geln­den Bereit­schaft, die Leser abzu­ho­len, an Ter­mi­no­lo­gie­ver­liebt­heit, dem Ver­zicht auf klas­si­sche Plot­mus­ter zur Auf­lö­sung der Story.

Oder man begeis­tert sich für die Schön­heit des Romans, der bis in sei­ne letz­ten Details Spaß macht. Die emo­tio­na­le Dich­te der in die Hand­lung ein­ge­scho­be­nen Gleich­nis­se, die Links zu ande­ren Tex­ten und sei­nen Humor. Wenn ein außer­ir­di­scher Gesand­ter wie ein »umge­stülp­ter Blu­men­topf« aus­sieht, feh­len nur noch auf­ge­kleb­te Nop­pen, um den Look der for­mi­da­blen Daleks aus der Serie Dr. Who per­fekt zu machen. Die Abschaf­fung der Arten hat nach einer Gra­phic Novel geru­fen (und ein Hör­spiel bekom­men), Pulsar­nacht ruft nach sei­ner Ver­fil­mung. Nicht fürs Kino, son­dern als Serie, hier wer­den wir ein Ende erle­ben, das uns nicht wie das von Lost ent­täuscht. (Oder doch? Eine Serie, deren letz­te Fol­ge nicht ent­täuscht, hat einen nicht begeis­tert.) Man kann vor Pulsar­nacht war­nen. Es ist nicht für jeden gemacht, und über­for­dert bewusst auch Fans des Gen­res. Emp­foh­len sei die­ser aus­ge­zeich­ne­te Roman aber allen, die schon die Abschaf­fung der Arten moch­ten, die Phil­ip K. Dick auf die Eis­schol­len brü­chi­ger Rea­li­tät folg­ten und denen, die sich nicht erschre­cken las­sen durch einen selbst­be­wuss­ten Ton, der sich aus Lek­tü­ren eines eige­nen Kanons speist und des­sen Kennt­nis ein­for­dert. In gewis­ser Hin­sicht ist Pulsar­nacht fast mehr Hand­buch und span­nen­der Fun­dus als ein blo­ßer, in sich geschlos­se­ner SF-Roman. (Ken MacLeod soll sich sei­ne Sto­ry wie­der­ho­len und die Fort­set­zung der Fort­set­zung schreiben!)

tl:dr
Was hat die­se Rezen­si­on nicht getan? Den Plot erklärt, die Poin­te. Was hat sie getan? Den Text einer klei­nen Grup­pe von Lese­rin­nen und Lesern mit SF-Affi­ni­tät ans Herz gelegt, und zwar innig. Was tun alle ande­ren? Erst ein­mal zu Ken MacLeod oder Hein­lein oder Joan­na Russ oder Daths Essay Maschi­nen­win­ter greifen.

Brit­ta Peters

Diet­mar Dath: Pulsar­nacht. Hey­ne, 2012, 13,99 €, E‑Buch: 10,99 €.


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