In Thomas Lehrs Roman “42” steht die Zeit still – und quält den Protagonisten.
Was würde man tun, wenn man der Einzige wäre, der im Dornröschenschloss wachte, zwischen all den eingeschlafenen, erstarrten Figuren, die die stillstehende Zeit mitten in der Bewegung hat innehalten lassen? Würde man nicht denken, sie alle stünden da und harrten der Sekunde, in der nach hundertjährigem Schlaf alles wieder, wie von einer Sekunde auf die andere, erwachte, seine Bewegung fortsetzte? Hoffte man dies nicht gar? Was aber, wenn man bereits fünf Jahre in der stillstehenden Zeit umherwanderte, in dem Bewusstsein, dass es nur wenige nicht erstarrte Menschen gibt, Chronifizierte, wie man selbst? Dürfte man dann zugreifen und sich nehmen, was man wollte? Und was würde passieren, würde die Welt sich doch plötzlich eines Tages weiterdrehen?
Vor diese Fragen sieht sich in Thomas Lehrs Roman »42« eine Gruppe von Besuchern des CERN im schweizerischen Genf gestellt, als sie nach einer Besichtigung des unterirdischen DELPHI-Detektors wieder an die Oberfläche zurückkehrt: Flugzeuge stehen wie festgeklebt am Himmel, Vögel verharren regungslos in der Luft, Menschen stehen wie zu Salzsäulen erstarrt in der letzten Pose, die sie eingenommen haben, bevor es 12:47:42 Uhr wurde. Die »Chronifizierten«, wie die Überlebenden sich nennen, umgibt eine Blase, innerhalb derer die Zeit noch normal vergeht. Dadurch können sie im erstarrten Wasser schwimmen in einer zufällig gegen Mittag einlaufen gelassenen Badewanne baden, oder das immer gerade auf den Tisch gestellte und heiße Mittagessen erstarrter Menschen essen. Erstarrte, die in den Einflussbereich der »Chronosphäre« eines Chronifizierten gelangen, werden aus ihrem Zustand befreit, kommen allerdings nicht zu Bewusstsein und brechen mit einem Stöhnen in sich zusammen. Wie alle Chronifizierten zieht sich Adrian Haffner, Wissenschaftsjournalist und Hauptfigur des Romans, in die Einsamkeit zwischen den starren Menschen zurück und wandert auf der Suche nach seiner Frau wochenlang durch Europa. Auf seiner Wanderschaft durch die gefrorene Welt durchläuft er die fünf Phasen des Niedergangs, der alle Chronifizierten erfasst: Schock, Orientierung, Missbrauch, Depression, Fanatismus. In Berlin stößt er schließlich auf einen Hinweis, dass seine Frau nicht allein in den Urlaub an die Ostseeküste gefahren ist, sondern ihn vielmehr schon länger betrügt. Den Nebenbuhler, den er schließlich in Florenz immer gerade in flagranti mit seiner Frau erwischt, drapiert er so auf dem Fensterbrett des Hotelzimmers, dass er, so die Welt irgendwann dornröschengleich aufwachen sollte, rückwärts hinabstürzt auf den Asphalt der Straße. Später, als die Zeit nach fünf Jahren für kurze drei Sekunden weiterläuft, trifft Adrian die anderen Chronifizierten wieder, um herauszufinden, ob das am CERN zurückgebliebene Forscherteam es tatsächlich geschafft hat, eine Lösung für das Problem zu finden. Doch auf dem Rückweg begegnet er witzigen und auch bizarren Menschenskulpturen aus den Körpern der erstarrten, die einige der Chronifizierten in den Jahren der Unzeit geschaffen haben, er stößt auf Mord und Missgunst unter den Überlebenden.
In Douglas Adams’ Per Anhalter durch die Galaxis ist die Zahl 42 die Antwort auf »die Frage nach dem Leben, dem Universum und dem ganzen Rest«; und auch, wenn Lehr, wie der Titel wohl so manchem Anhalter-Enthusiasten zunächst suggeriert, sich nicht direkt darauf bezieht, ist die 42 auch hier eine überraschende wie schreckliche Antwort. Die meisten Leser wird das Buch wohl fasziniert wie ratlos zurücklassen, weil zum Ende mehr und mehr physikalische Theoreme in die teilweise expressionistisch anmutende Beschreibung einfließen. Vielleicht also ist ein entsprechend geschulter Physiker der einzig wahre Leser von 42. Viel wichtiger erscheint aber die verzweifelte Reise Haffners, der voller Sehnsucht durch die erstarrte, zugleich voll von Menschen und doch gottverlassene Welt zieht; Sehnsucht nach seiner Frau, Sehnsucht nach Anna, einer chronifizierten Kollegin, die mit Boris zusammen ist und sich doch zu Haffner hingezogen fühlt, Sehnsucht nach der Rückkehr einer bewegten Welt. Die Sprache, in der all das stattfindet, spiegelt die Schwere, Gewundenheit und tiefe Melancholie Haffners wider; und obgleich sie das komplizierte physikalische Geschehen teilweise unverständlich erscheinen lässt, ist auf der künstlerischen Seite umso meisterhafter, was Lehr aus deren Konsequenzen macht: In einer vierseitigen Sequenz beschreibt er, wie der während des dreisekündigen »Rucks« auf der Straße zerschellte Nebenbuhler in Folge einer Zeitumkehr unter umgekehrten Vorzeichen vom Tod zurück ins Leben und von der Straße zurück in das Fenster seines Hotelzimmers fliegt.
Für den Leser sind das Buch und seine hochkomplexe und kunstvoll gedrechselte Sprache manchmal ebenso schwer zu durchdringen wie für seinen Helden Haffner die eingeschlafene Welt, die sich nicht mehr dreht und in deren Logik sich beide Ebenen, Leser wie Figur, gleichermaßen verstricken – und gerade, weil die Sprache so perfekt die verzweifelte Situation des »Chronifizierten« wiedergibt, bedeutet 42 für den Leser nicht dasselbe, wie für die Romanfiguren: den Tod. Christian Wobig Thomas Lehr: 42. Roman.
Christian Wobig