“Willkommen im Meer” – #einbuchfürkai

Ver­ris­se sind ein heik­les Geschäft. Die­ser beschäf­tigt sich mit einem Roman­erst­ling, der ein Best­sel­ler ist und des­sen Autor im Koma liegt. Er ent­hält eine Kauf­emp­feh­lung. Mehr dazu am Ende des Artikels.

Zur Sache: Kai-Eric Fitz­ners Will­kom­men im Meer ist ein Roman, der eini­ges will und dabei unfrei­wil­lig ins Abstru­se gerät. Sein Prot­ago­nist Tim Schä­fer ist Leh­rer, der mit sei­ner Frau Ant­je und der klei­nen Toch­ter eine Stel­le in Olden­burg antritt, wo an einem renom­mier­ten huma­nis­ti­schen Gym­na­si­um höhe­re Söh­ne und Töch­ter auf geho­be­ne Kar­rie­ren vor­be­rei­tet wer­den sol­len. Ant­je kennt sich aus in den Gefil­den der Bür­ger­lich­keit, ihre Fami­lie ist – wie sehr genau, dar­über schweigt man lächelnd – stink­reich. Ver­liebt hat sie sich in den Idea­lis­ten Tim, der mit sei­ner auf­rich­ti­gen Lie­be für sei­nen Beruf eine päd­ago­gi­sche Bahn ein­schlägt, die ihn zwangs­läu­fig zum Erz­feind jener Stein­zeit­pau­ker macht, die sich in fin­ni­gen Klein­krie­gen um die Rek­tor­stel­le bal­gen. Der jun­ge Leh­rer Tim nimmt sei­ne Schü­ler ernst, Ant­je lädt sie zu Rot­wein und Joints ein (es wird über­haupt viel gekifft im Text­ver­lauf, aber es sind ja auch alle schon groß) und bald fin­det sich eine auf gegen­sei­ti­gen Respekt und Freund­schaft bau­en­de Cli­que zusam­men. Das passt dem Estab­lis­ment natür­lich nicht und es ver­sam­melt sich ein Sack voll Ant­ago­nis­ten, von denen einer unsym­pa­thi­scher ist als der ande­re. Da sind auf der einen Sei­te die Leh­rer, unfä­hig, empa­thie­los, dem Suff in Lie­be zuge­tan, die den neu­en Kol­le­gen klein­hal­ten und, da er sie schlecht aus­se­hen lässt, los­wer­den wol­len. Zum ande­ren gerät Tim Schä­fer zwi­schen die Fami­li­en­fron­ten der Olden­bur­ger Gesell­schaft. Zwei beson­ders nar­ziss­ti­schen Vätern leis­ten dank sei­nem guten Unter­richt die Söh­ne Wider­stand, der eine löst sich vom kon­ser­va­ti­ven, der ande­re vom neo­li­be­ra­len Lager.

Die Lage eska­liert nun rasch, Magnus “Mag­gie” Moll, Ban­kiers­sohn und Freund der – wie sich her­aus­stel­len wird, schwan­ge­ren – Mit­schü­le­rin Rebec­ca, erhält im Haus der Schä­fers Wohnasyl. Die Leh­rer­schaft fährt schwe­re Geschüt­ze auf und schwärzt Tim Schä­fer im Minis­te­ri­um an, natür­lich sitzt dort ein Ver­bün­de­ter der kon­ser­va­tiv-neo­li­be­ra­len Ach­se der Miss­güns­ti­gen. Gleich­zei­tig sam­meln die Schü­ler Mate­ri­al gegen die schä­bi­ge­ren Pau­ker, um sie als dienst­un­fä­hig anzu­zei­gen. Genau die­ses Mate­ri­al ent­wen­det der Kon­rek­tor und Ober­schur­ke, um eine wei­te­re Ein­ga­be beim Minis­te­ri­um zu machen und es so aus­se­hen zu las­sen, als habe Tim Schä­fer die Kol­le­gen denun­ziert. Als wäre das nicht genug, zieht der Ener­gie­ver­sor­ger (Vater “Neo­li­be­ral” lässt grü­ßen) ab sofort in jedem Monat 30.000 Euro Abschlags­kos­ten ein.

Tim Schä­fer hät­te alles Recht, gewal­tig zu ver­zwei­feln. Da ist aller­dings noch Mut­ter, nicht sei­ne, son­dern die von Ant­je, Mut­ter ist ihr Ruf- und Spitz­na­me, sie fir­miert als Arche­ty­pus des Matri­ar­chats. Mut­ter reist an, zu Weih­nach­ten, natür­lich rei­sen auch Tim Schä­fers Eltern an, ver­plap­pern sich bei die­ser Gele­gen­heit nach 35 Jah­ren, dass er doch adop­tiert sei, auf jeden Fall nimmt “Mut­ter”, zufäl­lig auch Rechts­an­wäl­tin, die Ret­tung des Schwie­ger­op­fers in die Hand. In einem gewal­ti­gen Intri­gen­spiel, das altes (am Ende erfolg­rei­ches) Geld gegen neu­es (am Ende um Haus, Frau und Erben gebrach­tes) aus­spielt und eine umfas­sen­de Reha­bi­li­tie­rung des jun­gen Leh­rers erwirkt. Die letz­ten zwei Drit­tel des Tex­tes sind ein sich fort­set­zen­des Hap­py End, dem noch ein zwei­ter Plot­teil folgt, näm­lich der Exodus nach Shan­gri­la, das in die­sem Fall in Por­tu­gal liegt.

Es stellt sich näm­lich her­aus, dass die paten­te Ant­je von ihrem Fami­li­en­ver­mö­gen in ganz Euro­pa Land gekauft hat, um Modell­dör­fer oder Kom­mu­nen zu bau­en, die sich kapi­ta­lis­ti­schen Ver­ein­ze­lungs­ten­den­zen enkla­ven­ar­tig ent­zie­hen sol­len. Schä­fer wird über­rascht mit einem Plan, der vor­sieht, das inzwi­schen pri­va­ti­sier­te Olden­bur­ger Gym­na­si­um zur Keim­zel­le der Besied­lung die­ser Dör­fer zu machen, eini­ge geläu­ter­te Leh­rer machen mit, auch der Rek­tor, der sich als alter Freund von Mut­ter her­aus­stellt. Die Uto­pie ist kom­plett, Rebec­ca kriegt natür­lich Zwil­lin­ge, die Neo­kon-Eltern bet­teln um die Gna­de ihrer flüg­gen Kin­der, Lie­bes­paa­re fin­den sich, ein Mäd­chen outet sich als les­bisch, ein Freund der Fami­lie als schwul, alle Bösen krie­chen zu Kreu­ze (oder wenigs­tens in Knast und Klap­se), Schul­kar­rie­ren wer­den abge­bro­chen, denn es gibt ja jetzt die neue, selbst­ver­sor­gen­de Gesell­schaft der Kommunen.

Das ist star­ker Tobak. Der Roman ver­bin­det eine Feu­er­zan­gen­bow­len-Geschich­te vom jun­gen Leh­rer, der die Schö­ler gegen ver­krus­te­ten Drill anführt mit einer sozia­len Uto­pie, fährt aber die Ern­te auf gut 300 Sei­ten durch hand­werk­li­che Unsi­cher­hei­ten nicht ein. Der Hand­lungs­teil “Schu­le” ist holz­schnitt­ar­tig erzählt, was allen­falls einem ZDF-Fern­seh­spiel gerecht wird, tau­send­mal dar­ge­stell­te Typen bevöl­kern das Feld, zu ech­ten Indi­vi­du­en wer­den eigent­lich nur Tim und Ant­je. Der Uto­pie­teil funk­tio­niert über­haupt nicht, was vor allem dar­an liegt, dass der gesam­te Plan als Über­ra­schung spät im Text ein­ge­führt und eher als Gro­tes­ke insze­niert wird (bei der Ent­hül­lung des Gan­zen fällt Tim Schä­fer denn auch erst ein­mal in Ohnmacht).

Vie­le Figu­ren und Hand­lungs­ele­men­te sind in sich unlo­gisch. Da ist Lisa, am Ende fünf Jah­re alt. Mal kann sie spre­chen, dann wie­der nicht, die Eltern umsor­gen sie hin­ge­bungs­voll, trotz­dem brin­gen sie sie abends um elf zu einer Hip­pie­par­ty, auf der alle zuge­dröhnt her­um­lie­gen. Kein Wort ver­liert der Text dar­über, ob das Kind ins Bett gebracht wird und wie sich der Heim­weg mit ihm gestal­tet. Was hier an Schil­de­rung fehlt, über­erfül­len die inne­ren Mono­lo­ge des Prot­ago­nis­ten. Hier wird das Zeit­ge­sche­hen kom­men­tiert, über IT-Jar­gon refe­riert, der Fall des World Trade Cen­ters ist eben­so The­ma wie Tol­ki­ens Herr der Rin­ge, das alles kommt aber über Flos­keln und Stamm­tisch­phi­lo­so­phie­ren nicht auf ein Niveau, das die Län­ge der Abschwei­fun­gen recht­fer­tigt. Immer­hin ruft Tim Schä­fers klu­ge Frau ihn gele­gent­lich zur Ord­nung. (“Ant­je sieht mir immer an, wenn ich asso­zia­tiv in Fahrt gera­te, und sie weiß, dass ich dann kein Hal­ten ken­ne.”) Ähn­li­ches gilt für vie­le Dia­lo­ge und die Schil­de­run­gen der Schul­stun­den, der humor­vol­le Grund­ton des Romans hät­te nicht unter einer wei­te­ren Straf­fung der Vor­gän­ge gelitten.

Dass die­ser Ver­riss über­haupt mög­lich wird, ver­dankt der Roman jedoch sei­nen Qua­li­tä­ten als satis­fak­ti­ons­fä­hi­ger Text. Für ein selbst­ver­leg­tes Pro­jekt hat er ein sehr gutes Kor­rek­to­rat erfah­ren, die Feh­ler­dich­te ist nicht wesent­lich höher als die klas­si­scher Ver­lags­er­zeug­nis­se. Die streng line­ar abfol­gen­den Sze­nen sind auf Poin­te geschrie­ben und bele­gen das sprach­li­che Poten­zi­al des Autors. Und zuletzt ist der Humor, der den Plot durch­zieht, Grund dafür, dass man Will­kom­men im Meer trotz aller Schwä­chen bis zum Ende durch­le­sen kann. Bevor­zugt am Meer, im Urlaub, auf der Ter­ras­se, an son­nig düm­peln­den Nach­mit­ta­gen, wenn gute Lau­ne gefragt ist und nicht die kano­ni­sche Sinn­schwe­re, die Tim Schä­fers schü­ler­trie­zen­den Wider­sa­chern gefal­len hätte.

Ver­ris­se sind ein heik­les Geschäft. Die­ser bereits fast zehn Jah­re alte Roman ist seit eini­gen Tagen ein Best­sel­ler, weil in einem bewe­gen­den Appell dazu auf­ge­ru­fen wur­de, ihn zu kau­fen, um die in Not gera­te­ne Fami­lie des sehr schwer erkrank­ten Autors zu unter­stüt­zen. Selbst Ama­zon, Allein­ver­trieb von Will­kom­men im Meer, ver­zich­tet auf die übli­che Pro­vi­si­on, so dass der gesam­te Erlös aus den Ver­käu­fen (5,99 € für das E‑Buch oder 12,99 € für das Taschen­buch) Kai-Eric Fitz­ner und sei­ner Fami­lie zugu­te kommt.

Initia­tor des Auf­rufs ist der Bochu­mer Johan­nes Kor­ten, der in einem Blog­ein­trag die Situa­ti­on geschil­dert und mit gro­ßem Enga­ge­ment dafür gesorgt hat, dass die Hilfs­ak­ti­on so erfolg­reich wer­den konn­te. Auch grö­ße­re Medi­en berich­ten inzwi­schen über die Akti­on. Unter dem Hash­tag #ein­buch­für­kai kann man bei Face­book und Twit­ter die Wel­le der Soli­da­ri­tät für den Autor eines Buches über Freund­schaft und Soli­da­ri­tät live verfolgen.


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