Über unsere Faszination für Krimis

Mord und Tot­schlag, Atten­ta­te und Gemet­zel: Die einen mögen Seri­en­kil­ler, ande­re schät­zen es psy­cho­lo­gi­scher, am bes­ten wenn die Autorin mit allen Details die Fami­li­en­struk­tur der Figu­ren auf­zeich­net oder den Ermitt­ler fran­zö­sisch kochen lässt. In Fern­seh­kri­mis gehen wir sogar mit ins Büro. So vie­le Geschmä­cker es gibt, so vie­le Spiel­ar­ten des Gen­res gibt es.

Der Lite­ra­tur-Brock­haus defi­niert den Kri­mi als die Lite­ra­tur, die das Ver­bre­chen und sei­ne Auf­klä­rung in den Mit­tel­punkt der Hand­lung stellt. Dabei kann der Kri­mi­nal­ro­man vom Detek­tiv­ro­man, vom Spio­na­ge­ro­man und vom Thril­ler abge­grenzt wer­den. Die Gren­zen sind flie­ßend und in vie­len Roma­nen fin­den sich Ele­men­te meh­re­rer Spiel­ar­ten. Bei­spiels­wei­se in einem bekann­ten Kri­mi von Gard Sve­en: „Der Pil­ger“ erzählt eine Kri­mi­hand­lung, die in der Gegen­wart spielt, ist mit Ereig­nis­sen wäh­rend des Zwei­ten Welt­kriegs ver­wo­ben, die dem Buch den Cha­rak­ter eines Spio­na­ge­ro­mans ver­lei­hen. Wir lesen häu­fig die Bezeich­nung „Thril­ler“ auf Buch­co­vern. Damit sind jene Kri­mis gemeint, in denen der Ermitt­ler oder eine ande­re Haupt­fi­gur im Ver­lauf der Hand­lung selbst in Gefahr gerät.

Ein ers­ter Exkurs: “Der Fall Kallmann”

Ein Roman, der kaum ins klas­si­sche Sche­ma passt, ist bei­spiels­wei­se Håkan Nes­sers „Der Fall Kall­mann“. Es fällt gleich auf, dass auf dem Cover weder das Wort „Kri­mi“ noch das Wort „Thril­ler“ prangt, son­dern schlicht „Roman“. Håkan Nes­ser beweist mit die­sem Band wie­der ein­mal, dass er Kri­mis schrei­ben kann, die aus dem Rah­men fal­len. Es geht natür­lich ums Ver­bre­chen, aber die Tat wird nicht direkt geschil­dert und die Ermit­teln­den sind Lai­en. Leh­rer und Schü­ler unter­su­chen den Tod und ent­rät­seln das Leben eines Leh­rers in der Klein­stadt K. Der Ver­stor­be­ne inter­es­sier­te sich sehr für alte Kri­mi­nal­fäl­le und kam dabei einem nicht auf­ge­klär­ten – ja nicht ein­mal ent­deck­ten – Ver­bre­chen auf die Spur. Nicht nur durch die beson­de­re Form und das The­ma sei­nes Romans begeis­tert uns Håkan Nes­ser – mit den Mit­tel sei­ner Spra­che gelingt es ihm, die für sei­ne Tex­te typi­sche Stim­mung zu erzeugen:

„Wenn der Schnee und Lud­mil­la für das Licht ste­hen, dann steht die Berg­tuna­schu­le im Gegen­satz dazu eher für die Dun­kel­heit. Die unheil­schwan­ge­ren Stim­mun­gen und die Unru­he, die den gan­zen Herbst über geherrscht haben, sind mit fort­schrei­ten­der Schul­zeit immer greif­ba­rer gewor­den; den Men­schen geht es nicht gut, weder den Schü­lern noch den Leh­rern.“ (Håkan Nes­ser: Der Fall Kall­mann. S. 279)

Klas­si­sches und Kri­mis heute

Lite­ra­tur­ge­schicht­lich ist der Kri­mi­nal­ro­man im Zusam­men­hang mit Ratio­na­lis­mus und Auf­klä­rung zu sehen. Nicht das ers­te Werk sei­ner Art, aber von para­dig­ma­ti­scher Prä­ge­kraft ist E.A. Poes „The Mur­ders in the Rue Mor­gue“. Sehr deut­lich ist in die­ser Geschich­te der Ein­bruch des Irra­tio­na­len in eine geord­ne­te Welt zu sehen. Prot­ago­nist Dupin ist der genia­le Detek­tiv, der auf­klärt und die Ratio­na­li­tät tri­um­phie­ren lässt. Er dien­te Arthur Conan Doyle als Vor­bild für des­sen berühm­ten Detek­tiv Sher­lock Hol­mes und Jörg Bong (als Jean-Luc Ban­na­lec) nennt den Ermitt­ler sei­ner gera­de popu­lä­ren Kri­mi­rei­he eben­falls Dupin.
Die gro­ßen Klas­si­ker und auch viel­fach ver­film­ten Wer­ke des Gen­res spie­len mit die­sem Ein­bruch des Irra­tio­na­len und fol­gen genau dem Sche­ma, das uns auf die Fähr­te des­sen führt, was das Kri­mi­gen­re bis heu­te so fas­zi­nie­rend macht. Vom Lite­ra­tur­be­trieb wur­den Kri­mis lan­ge – trotz klas­si­scher Wer­ke von Poe, Schil­ler, E.T.A. Hoff­mann, Dos­to­jew­skij, Raa­be, Dür­ren­matt und Fon­ta­ne – gering geschätzt. Das hat sich längst geän­dert und zumin­dest eini­ge Autorin­nen und Autoren fin­den auch die Aner­ken­nung der Lite­ra­tur­wis­sen­schaft und der Feuil­le­tons. Vie­le Lite­ra­tur­prei­se wer­den ver­ge­ben und Kri­mi-Fes­ti­vals und ‑Lesun­gen zie­hen ein gro­ßes Publi­kum an.

Was fas­zi­niert uns so an Krimis?

Vor allem sei­ne Ver­käuf­lich­keit bestimmt heu­te die star­ke Prä­senz des Kri­mi­nal­ro­mans in den Buch­lä­den. Auch im Fern­se­hen ist der Kri­mi in Form von Seri­en oder Rei­hen sehr prä­sent und im Kino ver­tei­di­gen Thril­ler einen sehr gro­ßen Markt­an­teil. Aber war­um sind wir von die­ser schon seit vie­len Jah­ren erfolg­reichs­ten Spar­te der Lite­ra­tur eigent­lich so fas­zi­niert? Geht es doch um Din­ge, die für die meis­ten von uns unan­ge­neh­mer als der eige­ne All­tag sind. Aber das gilt natür­lich nur dann, wenn wir es direkt erle­ben wür­den. Etwas ande­res ist es, wenn wir auf der Couch lie­gen, ein­ge­ku­schelt und mit einem Gläs­chen Wein (oder einer Fla­sche Bier) ver­sorgt, dem irra­tio­nal han­deln­den Mör­der bei sei­nen Taten beob­ach­ten. In die­sem kon­trol­lier­ten Rah­men wirkt die Fik­ti­on anzie­hend und die emo­tio­na­le Erre­gung wird als ange­nehm emp­fun­den.
Es ist wohl der Kon­trast zwi­schen Fik­ti­on und All­tag, der nicht nur den Kri­mi zu einen guten Flucht­ort eska­pis­tisch Lesen­der macht. Im Gegen­satz zur fan­tas­ti­schen und uto­pi­schen Lite­ra­tur fin­den sich aber im Kri­mi­gen­re mehr irra­tio­nal han­deln­de Figu­ren. Ver­bre­chen sind sel­ten ratio­na­le Hand­lun­gen, auch nicht in Roma­nen und Fil­men. Den­ken wir nur an die vie­len Ver­tu­schungs­ta­ten, mit denen ver­sucht wird, die Auf­klä­rung einer deut­lich harm­lo­se­ren Straf­tat zu verhindern.

Gera­de in letz­ter Zeit wur­de das Modell vom auto­no­men, ratio­na­len Akteur (z.B. der “Homo Oeco­no­mic­us”) in der Psy­cho­lo­gie viel­fach in Fra­ge gestellt. Trotz­dem ist unser Han­deln wei­ter­hin davon bestimmt, die best­mög­li­chen Ent­schei­dun­gen zu tref­fen, wobei Mord meis­tens nicht dazu­ge­hört. Unser All­tag birgt kei­ne Geheim­nis­se und wir han­deln ratio­nal auf einen Zweck hin. Mit dem Täter im Kri­mi haben die Lesen­den also in der Regel wenig gemein­sam. Sie haben eher nur klei­ne Lei­chen im Kel­ler und nor­ma­le Las­ter wie Socken her­um­lie­gen las­sen oder unbot­mä­ßi­ges Ver­hal­ten gegen­über ihren Chef. 
Nun brin­gen Kri­mis uns risi­ko­los in ande­re Sphä­ren. So wie wir in Fan­ta­sy und Sci­ence Fic­tion Erfah­rung in magi­schen oder zukünf­ti­gen Wel­ten sam­meln, befrie­di­gen Kri­mis ein Bedürf­nis nach Mys­te­riö­sem. Kri­mis sind durch­aus in der Nähe fan­tas­ti­scher Lite­ra­tur zu sehen. Wie Wer­ke der Roman­tik pfle­gen bei­de Gen­res eine Angst­kul­tur. Edgar Allen Poes Werk steht para­dig­ma­tisch für die gemein­sa­men Wur­zeln der fan­tas­ti­schen Lite­ra­tur und der Krimis.

Aus psy­cho­ana­ly­ti­scher Sicht kon­fron­tie­ren uns Kri­mis von allen Spiel­ar­ten der Lite­ra­tur am stärks­ten mit uns selbst, mit unse­rer Schuld und Scham und mit der Angst, wenn das Irra­tio­na­le in all­täg­li­che Sze­ne­rien ein­bricht. In unse­rer ratio­nal durch­struk­tu­rier­ten und eigent­lich siche­ren Lebens­welt geben uns Kri­mis die Gele­gen­heit star­ke Gefüh­le zu durch­le­ben, ohne phy­sisch in Gefahr zu gera­ten oder als Lesen­de für irgend­et­was Ver­ant­wor­tung über­neh­men zu müs­sen: Ande­re han­deln und lei­den stell­ver­tre­tend. Neben den erwähn­ten nega­ti­ven Gefüh­len, die wir als Kon­trast zum All­tag bei der Kri­mi­lek­tü­re genie­ßen, ist nicht zu ver­nach­läs­si­gen, dass Kri­mis unser mora­li­sches Emp­fin­den wach rüt­teln. Es ist nicht nur die Ord­nung unse­rer Lebens­welt, die gestört und wie­der­her­ge­stellt wird. Wir emp­fin­den auch Empö­rung über die unge­rech­te Tat und wer­den belohnt, wenn wir lesen oder sehen, wie der Täter zur Stre­cke gebracht und unse­re eigent­lich so gelieb­te Ord­nung wie­der­her­ge­stellt wird.

Joy­ce Carol Oates: “Pik-Bube”

In Joy­ce Carol Oates‘ Roman „Pik-Bube“ ist auf Sei­te 36 die­ser Satz zu finden:

„Leser die­ses Gen­res haben jedes Recht zu erwar­ten, dass ein unge­schrie­be­ner Ver­trag zwi­schen ihnen und dem Kri­mi­au­tor besteht – dass das „Böse“ ange­mes­sen bestraft und das übli­che Cha­os der Welt radi­kal ver­ein­facht wird, um einen Schluss zu ermög­li­chen, der sowohl plau­si­bel als auch über­ra­schend ist.“

Wir erken­nen hier eines der schon bei den Klas­si­kern zu fin­den­den Haupt­cha­rak­te­ris­ti­ka des Kri­mis: Das „Böse“ und Cha­os bre­chen in die Roman­welt ein und die­se wird (durch eine ermit­teln­de Figur) wie­der in Ord­nung gebracht. Mit die­ser Erwar­tungs­hal­tung grei­fen vie­le Lesen­de zu Kri­mis. Die­ses Sche­ma bedient auch Oates, obwohl ande­re ein­deu­ti­ge Kri­mi­ele­men­te in ihrem Roman feh­len. Mit ihrer Aus­sa­ge nimmt sie vor­weg, was den Schluss von „Pik-Bube“ prägt, näm­lich zu über­ra­schen, obwohl er plau­si­bel ist.

Ist es nicht auch so, dass der Kri­mi über die Reduk­ti­on von Kom­ple­xi­tät funk­tio­niert, indem er das Geheim­nis des Ver­bre­chens auf­hellt? Im Kri­mi funk­tio­niert noch, was in der glo­ba­len Unüber­sicht­lich­keit nicht mehr geht. Die see­lisch ange­schla­ge­nen Kom­mis­sa­re und die mit­un­ter ent­kom­men­den Ver­bre­cher (zwei ver­brei­te­te Aspek­te des zeit­ge­nös­si­schen Kri­mis) zei­gen zwar einen laten­ten Ein­bruch der Unord­nung in die geord­ne­te Welt der Ver­bre­chens­auf­klä­rung, den­noch bleibt die Span­nung an die Erklä­rung der Hin­ter­grün­de und Moti­ve der Figu­ren gebun­den. Der Kri­mi sug­ge­riert damit, dass die­se Erklä­rung im Sin­ne einer Kom­ple­xi­täts­re­duk­ti­on immer noch funktioniert.

Kri­mi-Hin­ter­grün­de: Tho­mas Bau­ers “Ver­eindeu­ti­gung der Welt”

In dem Büch­lein „Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt“ wid­met auch Tho­mas Bau­er sich in einem Kapi­tel die­sem The­ma. Der Unter­ti­tel des Ban­des, „Über den Ver­lust an Mehr­deu­tig­keit und Viel­falt“, deu­tet an, wor­um es ihm geht. Er glaubt zu beob­ach­ten, dass die Men­schen in vie­len Berei­chen der Gesell­schaft (wie Kunst, Kul­tur, Reli­gi­on oder Poli­tik) eine Mehr­deu­tig­keit nicht mehr ertra­gen. Statt­des­sen wäh­len sie ent­we­der den „fun­da­men­ta­lis­ti­schen“ Pol, wo alles ein­deu­tig ist, „ent­we­der ganz rich­tig oder ganz falsch, und es ist ewig gül­tig“ (Tho­mas Bau­er: Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt. S. 29), oder den „post­mo­der­nen“ Pol, wo jede belie­bi­ge Deu­tung gleich gül­tig und des­halb am Ende alles gleich­gül­tig ist. Bau­er nennt die­ses Phä­no­men „Ambi­gui­tätsin­to­le­ranz“.
Die gesun­de Mit­te, wel­che die Suche nach der wahr­schein­lichs­ten Deu­tung unter einer begrenz­ten Anzahl von Mög­lich­kei­ten bedeu­tet, erscheint den Men­schen heu­te offen­bar zu anstren­gend. (Lei­der fragt Bau­er nicht nach den Ursa­chen!) Zu den Sym­pto­men der Ambi­gui­tätsin­to­le­ranz zäh­len auch die favo­ri­sier­ten For­ma­te im Unter­hal­tungs­sek­tor. Im Fern­se­hen domi­nie­ren heu­te For­ma­te ohne Ambi­gui­tät wie Nach­rich­ten, Bör­se und Sport oder Ambi­gui­tät redu­zie­ren­de wie Quiz­sen­dun­gen, Rea­li­ty-TV und Kri­mis. Ähn­li­ches gilt für den Buch­markt. Ambi­gui­tät oder Deu­tungs­viel­falt macht z.B. das Wesen der Lyrik aus. Gera­de des­halb hat sie es nach Bau­ers Mei­nung heu­te schwer. Statt­des­sen okku­piert der Kri­mi die Rega­le. „Gegen­stand eines Kri­mis ist aber nicht die Her­stel­lung von Ambi­gui­tät, son­dern zumeist deren Auf­lö­sung.“ (Tho­mas Bau­er: Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt. S. 90)
Eine unkla­re Aus­gangs­la­ge (War es Mord? Wer ist der Täter?) wird in Ein­deu­tig­keit über­führt und damit beru­higt. Trotz gewis­ser Schwä­chen in Bau­ers Argu­men­ta­ti­on ist sein Hin­weis auf die ambi­gui­täts­re­du­zie­ren­de Funk­ti­on des Kri­mis hilf­reich. Für das Ver­ständ­nis zeit­ge­nös­si­scher Kri­mi­be­geis­te­rung ist er eben­so erhel­lend und lesens­wert wie “Pik-Bube” von Joy­ce Carol Oates.

Bernd Schä­fer

Håkan Nes­ser: Der Fall Kall­mann. btb, 2017. 576 Seiten.

Edgar Allan Poe: Die Mor­de in der Rue Mor­gue und ande­re Erzäh­lun­gen. Bücher­gil­de Guten­berg, 2009.

Joy­ce Carol Oates: Pik-Bube. Droe­mer Knaur, 2018. 208 Seiten.

Tho­mas Bau­er: Die Ver­eindeu­ti­gung der Welt. Reclam. 104 Seiten.


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